Die einen rieben sich ungläubig die Augen, die anderen schossen begeistert Fotos: Direkt neben einer Brücke für den motorisierten Verkehr zweigt eine weitere, schmälere Brücke ab – komplett blau markiert und von unten beheizt. Sie ist allein für Fahrräder vorgesehen und lenkt diese auf einem eigenen Weg in die Innenstadt. Dieses Sinnbild für Tübingens fahrrad- und klimaorientierte Verkehrspolitik lag direkt an dem Hotel, in dem eine Gruppe aus Stadträten und Mitgliedern der Verwaltung aus Bamberg jüngst übernachtete. Das Ziel dieser Klimatour im Rahmen des Projekts „Mitmachklima“: In der 92.000-Einwohner-Stadt in Baden-Württemberg Anregungen für die eigene Stadt sammeln.
„Wie haben sie es geschafft, dass so eine Brücke für Radfahrende neben eine bestehende Brücke gebaut werden konnte“, fragte dann auch einer der neun Bamberger Stadträte aus fünf Fraktionen und Gruppierungen, angeführt von Bürgermeister und Klimareferent Jonas Glüsenkamp, als sie Tübingens bekannten Oberbürgermeister Boris Palmer im Rathaus besuchten.
Das Stadtoberhaupt erzählt, dass die Brücke für den motorisierten Verkehr vor einiger Zeit abgerissen und neu gebaut werden musste. Eine Ersatzbrücke musste also her. „Ein Provisorium und eine dauerhafte Brücke, die im Anschluss für Fahrräder genutzt werden kann, waren auf Grund von Förderungen nahezu kostengleich“, berichtet Palmer, räumte aber auch ein, dass es trotzdem Widerstände gegen das Projekt gegeben hätte. Ungewöhnlich schließlich auch, dass das Bauwerk im Winter auf 4 Grad erwärmt wird, um gegen die Glätte kein Salz streuen zu müssen, was die Substanz des Bauwerks langfristig angreifen würde. „Wie setzt man das am Ende durch? Mit guten Argumenten und ohne Rücksicht auf Diffamierungen!“
Christian Hader (Grünes Bamberg): „Tübingen macht vor, worüber Bamberg noch diskutiert. Eine vom dortigen Einzelhandel geforderte, verkehrsberuhigte Innenstadt sorgt für eine herausragende Lebensqualität. Darüber hinaus ist die Stadt mit viel blühendem Grün versehen und ein modernes Energiekonzept sorgt für Sicherheit bei der Versorgung. Ich hoffe, dass sich die Kolleginnen und Kollegen aus dem Stadtrat inspirieren ließen.“
Fast eine Stunde nahm sich der Oberbürgermeister Zeit, um den Gästen aus Franken seine Klimapolitik zu erklären und ihre Fragen zu beantworten. Sein Wirken in Tübingen unterteilte er rückblickend in mehrere Phasen. Nach seiner Wahl 2006 sei es zunächst um Verständnis und Aufmerksamkeit für eine umweltbewusste Politik gegangen – in einer Zeit, als es noch keine „Fridays for Future“ gegeben hat. So wurde die Kampagne „Tübingen macht blau“ gestartet und erfolgreich ein Bewusstsein in der Bevölkerung geschaffen. „Das war alles angebotsorientiert“, sagte Palmer.
In einer zweiten Phase ab 2015 wurde kräftig investiert. Rund 200 Millionen Euro flossen in die Nutzung von alternativen Energien sowie in den Ausbau des Fernwärmenetzes und des ÖPNV. Die dritte Phase ab 2019 war dann schon getrieben von „Fridays for Future“ und der Forderung, Tübingen solle bis 2030 klimaneutral werden. Dahinter stellte sich auch die Mehrheit des Stadtrats, woraufhin mit einer umfangreichen Bürgerbeteiligung ein Maßnahmenpaket erarbeitet und verabschiedet wurde.
Fast alle Schritte fanden über 50 Prozent Zustimmung bei der Bevölkerung – bis auf die Verteuerung des Anwohnerparkens pro Stellplatz im Jahr von ehemals 30 auf 120 Euro bzw. 70 auf 180 Euro für größere Fahrzeuge. „Wo sind die ganzen Autos?“, fragten die Bamberger, die kaum Autos bemerkt hatten. Palmer antwortete: „Die parken am Rand der Innenstadt. Der Besitzer muss vielleicht auch mal einen Kilometer bis zur Wohnung laufen. Unser Ziel ist, die Autobesitzquote runterzukriegen, was aber noch nicht so gut funktioniert.“ Schon in den 1990er-Jahren sei in Tübingen verstanden worden, dass der Einzelhandel nicht durch Parkplätze vor der Tür, sondern durch Atmosphäre und Schönheit der Umgebung gerettet werden kann.
Fast alle Schritte fanden über 50 Prozent Zustimmung bei der Bevölkerung – bis auf die Verteuerung des Anwohnerparkens pro Stellplatz im Jahr von ehemals 30 auf 120 Euro bzw. 70 auf 180 Euro für größere Fahrzeuge. „Wo sind die ganzen Autos?“, fragten die Bamberger, die kaum Autos bemerkt hatten. Palmer antwortete: „Die parken am Rand der Innenstadt. Der Besitzer muss vielleicht auch mal einen Kilometer bis zur Wohnung laufen. Unser Ziel ist, die Autobesitzquote runterzukriegen, was aber noch nicht so gut funktioniert.“ Schon in den 1990er-Jahren sei in Tübingen verstanden worden, dass der Einzelhandel nicht durch Parkplätze vor der Tür, sondern durch Atmosphäre und Schönheit der Umgebung gerettet werden kann.
Gerhard Seitz (CSU): „Tübingen zeigt einen von der Bevölkerung akzeptierten, konsequenten Klimaschutz und hat dabei ein Herz für Autofahrer: In der Tiefgarage 1 € und oberflächlich null €/Nacht, bei uns sind es 2,50 €/ Stunde auch mitten in der Nacht!“
Was den Gästen ebenfalls in der Stadt aufgefallen war: die geringe Beleuchtung in der Nacht und der wenige Müll. „Die Neonreklame ist schon seit den 70er-Jahren stark reduziert. Das ist so gewollt“, erklärte der OB. Und bei der Sauberkeit schlägt sich die Verpackungssteuer nieder. Etwa 800.000 Euro bringe sie in die Stadtkasse und hilft so, die hohen Reinigungskosten zu decken. Aber vor allem habe sie zu einem starken Anstieg der Mehrweg-Angebote geführt und zu weniger Müll. „Also, das wirkt!“, meinte Palmer.
Anschließend ging es dann in fachliche Details zusammen mit Bernd Schott, den Palmer 2007 zur Stadt Tübingen gelotst und die Leitung der damals neuen Stabstelle Klima- und Umweltschutz übertragen hatte. Er berichtete, wie er Wirkung entfalten musste „ohne Anweisungen geben zu können – ich hatte nur die Macht der Worte“.
Ausführlich stellte er dar, wie die Bürgerbeteiligung zu Palmers Zehn-Punkte-Plan zur Klimaneutralität abgelaufen ist und wie dabei auch eine Bürger-App geholfen hat, wo Tübingen regenerative Energie gewinnt und die Erzeugung forciert, und wie der Ausbau der Fernwärme zügig vorangetrieben wurde.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen folgte ein Quartiersrundgang durch das ehemalige Güterbahnhofsareal. Es war viel mehr als ein Verdauungsspaziergang: Bernd Schott zeigte vor Ort, wie auf rund zehn Hektar direkt neben der Bahnstrecke innerhalb von sieben Jahren ein dicht bebautes Gewerbe- und Wohnviertel entstanden ist. Ein Bürogebäude in Holz-Hybrid-Bauweise und mit Photovoltaik-Fassade, die erst auf den zweiten Blick zu erkennen ist, stellt das prägnante Eingangstor zu diesem Areal dar. 570 Wohneinheiten, davon 360 Mietwohnungen und zu einem Viertel Sozialwohnungen, bilden das neue Stadtviertel, in dem viel Wert auf soziale Nähe und Nachhaltigkeit gelegt wird.
Felix Holland (SPD): „Der Besuch in Tübingen hat mir gezeigt, dass jede Stadt ihre eigenen Hausaufgaben für das Klima zu machen hat. Es gibt gemeinsame, aber auch spezifische Aufgaben und Möglichkeiten. Besonders wichtig ist aber dabei, transparent vorzugehen, Erklärungen für alle Beteiligten zur Verfügung zu stellen und soziale Gesichtspunkte bei den Entscheidungen mit zu berücksichtigen. Mit gesellschaftlicher Akzeptanz wird eine Umsetzung gelingen können.“
Nur einen Steinwurf entfernt vom Güterbahnhofsareal liegt das Unternehmen AV Möck, das die Bamberger Gruppe zum Abschluss besichtigte. Unter dem Slogan „Generation Recycling“ hat sich der Komplettentsorger dem Ziel der Stadt angeschlossen, bis 2030 klimaneutral zu werden, wie mehrere Mitglieder des Familienunternehmens erzählten. So begann auch hier im Jahr 2020 der Umbau der Firma: Es wurde investiert in E-Mobilität, ein Gütergleis-Anschluss wieder hergestellt und alle Dächer wurden mit Photovoltaik-Anlagen ausgestattet. So gelang es, die Versorgung mit eigener Energie sicherzustellen.
Eine Herausforderung bleibt die Umstellung der kompletten LKW-Flotte auf E-Antrieb, die in den nächsten Jahren gelingen soll. Die verschiedenen Arbeitsschritte bekamen die Stadträte und Verwaltungsmitarbeitenden bei einem Rundgang über das Gelände erläutert. „Für uns ist es immer wichtig, stofflich zu verwerten und nicht in die Verbrennung zu gehen“, hob Benjamin Möck hervor und brachte als Beispiel, wie Altreifen geschreddert und dann als Boden für Spielplätze wiederverwendet werden.
Für die tiefgehenden Einblicke an diesem Tag dankte Bürgermeister Jonas Glüsenkamp sowohl der Familie Möck, als auch Bernd Schott und Oberbürgermeister Boris Palmer. „Wir haben sehr viele inspirierende Ideen gesammelt und nehmen diese mit nach Bamberg, wo sie sicherlich auch in die politische Diskussion einfließen werden“, zog Glüsenkamp als Fazit. Die Klimatour des Programms „Mitmachklima“ habe sich als Quelle für Anregungen bewährt, nachdem in diesem Jahr bereits Pfaffenhofen und München besucht worden waren. Im nächsten Jahr soll es mit diesem Format und weiteren Blicken über den Bamberger Tellerrand weitergehen.